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Jan Popp
Vom Kintopp ins TV: Alfred Vohrers Weg zu 'Derrick'

Jan Popp

Vom Kintopp ins TV: Alfred Vohrers Weg zu 'Derrick'


Originalseiten aus Alfred Vohrers Drehbuch zu  "Derrick: Offene Rechnung" mit vielen Anmerkungen

Disposition zur Folge "Offene Rechnung".

Die bundesdeutsche Kinofilmindustrie der 1970er Jahre droht, sich allmählich selbst zu zerlegen. Von den 1960 gelisteten Verleihfirmen existiert zu Beginn des Jahres 1970 nur mehr ein kleiner Teil. Tendenz: weiter fallend. Ähnlich ergeht es den Produktionsgesellschaften, von denen die letztverbliebenen entweder ihr Heil in der Kooperation mit europäischen Partnern suchen oder aber ganz und gar auf die anscheinend nimmer versiegen wollende Genre-Cashcow Sexfilm setzen. Der lachende Gewinner der seit Jahren schwelenden Auseinandersetzung zwischen Kino und Fernsehen ist schlussendlich das Fernsehen. Die Fernsehproduzenten erlangen mehr und mehr die Oberhand und nicht wenige sind erpicht darauf, einstige Kinoregisseure unter Vertrag zu bekommen. So ein Fernsehproduzent ist auch Helmut Ringelmann, der mit Erik Ode und seinem "Kommissar" ab 1969 die Deutschen vor den Fernseher zieht, ehe diese überhaupt erst auf die Idee kommen, eine Kinokarte zu lösen. Ringelmann schafft es, Helmut Käutner, Wolfgang Staudte oder Alfred Weidenmann in den Regiestuhl zu bekommen. Selbst Kino- oder gar Theatergrößen wie Gottfried Reinhard, Leopold Lindtberg oder José Giovanni geben bei Ringelmann ein Gastspiel.

Alfred Vohrer hätte im Startjahr des "Kommissars" 1969 vermutlich schallend gelacht, hätte man ihm gesagt, er würde alsbald Teil des Ringelmann'schen Fernsehkosmos und zugunsten dessen das Kino aufgeben. Die Vorstellung, vom Kino ins Fernsehen zu wechseln - eine humorvolle Groteske. Bestenfalls. Vohrers nicht eben hohe Meinung zum Fernsehen ist hinlänglich bekannt, und sie unterscheidet sich in ihren Grundzügen nicht wesentlich von der des Großteils seiner damaligen Kino-Kollegen im Regiefach. Kino ist Kino und Fernsehen ist Fernsehen. Dazwischen verläuft eine klare Trennung und wer als gestandener Kinomann - gleich ob vor oder hinter der Kamera - mehr als nur einen vorübergehenden Flirt mit dem Fernsehen riskiert, über den lässt es sich gescheit die Nase rümpfen. Vorerst noch.

Alfred Vohrer, der am 29.12.1914 in Stuttgart geborene Sohn eines Kaufmannes, arbeitet sich im Laufe der 1960er Jahre von einem umtriebigen und dauerbeschäftigten Synchronregisseur zu einem der erfolgreichsten und bestbezahlten deutschen Kinofilmregisseure empor. Nach einer Reihe von Filmen im sogenannten Halbstarken- bzw. Problemfilm-Genre prägt Alfred Vohrer fortan wie kein zweiter Regisseur die populäre Kinofilmserie um Romane des englischen Schriftstellers Edgar Wallace, steuert drei Beiträge zur Kassenrekorde brechenden Karl-May-Serie bei und arbeitet zwischendurch für diverse deutsche und auch ausländische Produzenten - sofern sie den vielbeschäftigten Regisseur denn überhaupt unter Vertrag bekommen. Zu Beginn der 1970er Jahre dann gelingt es Alfred Vohrer, der von Kollegen gerne Freddy und von engen Freunden und Familienangehörigen auch Fred genannt wird, die Beststeller des Schriftsteller Johannes Mario Simmel so überzeugend auf die Leinwand zu bringen, dass die mittlerweile fernsehgewohnten Deutschen noch einmal in Scharen in die Kinos strömen. Bis 1974 hält Vohrer die Simmel-Maschine am Laufen, doch dann muss auch Vohrer erkennen, dass die Simmel-Welle im Abebben begriffen ist. Auf Simmel folgen noch einige weitere Kinoverfilmungen z.B. nach Romanen von Ludwig Ganghofer. Allerdings vermögen weder die Sujets noch die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen in der von Geldnöten geplagten Kinofilmindustrie, den stets an einem gewissen Qualitätsstandard interessierten Vohrer zur Mitte der 1970er Jahre zufriedenzustellen.

Parallel zu dieser Entwicklung entsteht für das ZDF im Hause des Münchner TV-Produzenten Helmut Ringelmann auf dem Bavaria-Filmgelände eine neben dem "Kommissar" positionierte TV-Reihe um den Polizeioberinspektor Derrick. Dargestellt wird dieser von Horst Tappert, mit dem Alfred Vohrer bereits 1967 anlässlich eines Edgar-Wallace-Films das erste Mal einen Kinofilm machte. Regisseur Vohrer und Schauspieler Tappert kommen von Anbeginn an gut miteinander aus. Tappert, der bei seiner Arbeit viel Wert auf hohe Professionalität, Pünktlichkeit und eine gewisse Akkuratesse legt, findet in Alfred Vohrer diesbezüglich einen Gleichgesinnten, sodass es kaum verwundert, dass Tappert sich darum bemüht, Vohrer als "Derrick"-Regisseur mit an Bord seiner neuen Krimiserie zu bekommen.

Alfred Vohrer ist nicht begeistert. Produzent Ringelmann ebenfalls nicht. Währenddessen sich Ringelmann jedoch von Tappert überzeugen lässt, dass Vohrer genau der richtige Mann ist, um der Reihe "Derrick", die sich nach Kräften vom "Kommissar" unterscheiden soll, eine neue und bislang ungekannte visuelle Richtung zu verpassen, geht Vohrer mit dieser Idee längere Zeit schwanger. Er wägt ab. Hier die qualitativ merklich nachlassenden Angebote beim Kino, die zwar nach wie vor kommen, ihm aber nicht mehr liegen. Dort, bei Ringelmann, die guten Arbeitsbedingungen - Ringelmann beschäftigt je Episode einen Stab von gut 20 Mitarbeitern hinter der Kamera -, vernünftige Bücher von Herbert Reinecker, mit dem er schon 1964 den Edgar-Wallace-Kinoerfolg "Der Hexer" gemacht hatte. Vohrer ist zu dieser Zeit der Entscheidung knapp 60 Jahre alt, doch eines kommt ihm bei all der Abwägung nicht in den Sinn: aufzuhören. Gut könnte er sich mit dem erwirtschafteten Geld in seine repräsentative Villa am Rande des Berliner Grunewald zurückziehen, sich um seinen über die Jahre viel zu kurz gekommenen Hund kümmern und die Gestaltung seines beachtenswerten Gartens vorantreiben. Doch das Dasein eines Pensionier liegt ihm nicht. Abgesehen von einer gewissen Kurzatmigkeit bei Anstrengungen fühlt sich Alfred Vohrer gesundheitlich fit, und in der Tat wirkt er auch optisch nicht wie ein Mann kurz vor Beginn des gesetzlichen Rentenalters. Dass sein (falsches) Geburtsdatum mit dem Jahr 1918 in allen möglichen Gazetten und Veröffentlichungen auftaucht, lässt Vohrer stets unkommentiert. Selbst die Honneurs der Zeitung "Der Tagesspiegel" zu seinem (vermeintlich) 65. Geburtstag am 29.12.1983 wird er wortlos zur Kenntnis nehmen. Alfred Vohrer nimmt daher die neue Herausforderung beim Fernsehen an und unterschreibt bei Ringelmanns Telenova-Fernsehproduktion einen Vertrag für zunächst eine Episoden der Reihe "Derrick" - Option auf zwei weitere. Seinen Fernseh-Erstling liefert Vohrer somit im Frühsommer 1975 ab. In "Kamillas junger Freund", so der Titel der Episode aus der Reihe "Derrick" zeigt der Regisseur sogleich, was er sich unter der von Produzent und Hauptdarsteller erwarteten neuen Stilrichtung vorstellt. Zunächst einmal finden sich vor der Kamera allerdings neben den "ermittelnden Beamten" Tappert, Wepper und Stoll eine ganze
Reihe altgedienter Vohrer-Darsteller ein: Siegfried Wischnewski ("Der Zinker", 1963), Karl-Walter Diess (div. Simmel-Filme), Käte Jaenike ("Unser Haus in Kamerun", 1961), Mascha Gonska ("Herzblatt - Oder wie sag' ich's meiner Tochter", 1969), Bruno Dallansky ("Sieben Tage Frist", 1969) und selbst die altgedienten Edgar-Wallace-Haudegen Konrad Georg, Albert Bessler und Ilse Pagé bringt Vohrer in seinem ersten TV-Stück unter. Hinzu gesellen sich neue Gesichter wie beispielsweise Gerd Böckmann oder Hans-Georg Panczak, mit denen der Regisseur auch in Zukunft noch häufiger arbeiten wird.
Hans-Martin Majewski, der die Musik zu dieser Episode schreibt, weiß genau, was sein Regisseur will - er hat ihm schließlich u.a. bereits den Score zu dem exzellenten Kriminalfilm "Sieben Tage Frist" im Jahre 1969 geliefert. "Das muss ordentlich knallen!", hatte Vohrer bereits seinen "Haus- und Hof-Musikern" Peter Thomas und Martin Böttcher - letzterer nicht immer glücklich darüber - in den 1960er Jahren in den Notenschlüssel diktiert. Auch Majewski folgt dieser Devise. In ähnlicher Weise treibt Vohrer den Kameramann an, mit dem er fortan die allermeisten Fernsehkrimis inszenieren wird: Rolf Kästel, den die ganze Equipe vermutlich aufgrund seiner Kölner Abstammung mitsamt des damit einhergehenden Humorverständnisses stets "Tünnes" nennt. Der spätere Stammregieassistent Vohrers, Peter Weissflog, erinnert sich gut an die Arbeitsweise der beiden Herren: "Besonders schätzte er [Vohrer] den Rolf Kästel als Kameramann. [...] Alfred Vohrer und Rolf Kästellegten immer ein ziemliches Tempo vor. Es hieß immer 'komm komm' und 'schnell schnell'."Doch Weissflog ist bei "Kamillas junger Freund" noch nicht mit dabei. Hier assistiert noch Eva Ebner, Vohrers langjährige Vertraute und Regieassistentin, deren erster und damit auch schon vorletzter Einsatz dies in der Reihe "Derrick" ist.

Bei der Abnahme der Episode kommt an, was "der Neue" im Regiestuhl vollbracht hat. Vohrer drückt auf die Tube, lässt Herbert Reineckers nicht eben übermäßig komplexe Story nicht im Bedeutungslosen versickern. Wie gewohnt, versucht er dabei, Bedeutung in die Bilder zu legen. Er lässt Szenen häufig mit einem Close-Shot beginnen, um dann Rolf Kästel die Kamera zu einer Totalen aufreißen zu lassen. Dies versetzt den Zuschauer in die Situation, nicht immer gleich zu wissen, wie und wo die Szene abläuft. Es handelt sich dabei um ein nach Meinung des Regisseurs geeignetes Instrument zum Aufbau von Spannung, wie er es immer wieder einsetzt. Grundsätzlich ist mit "Kamillas junger Freund" somit der Weg für weitere Episoden geebnet, und Alfred Vohrer wird schon bei seinem nächsten TV-Einsatz zeigen, dass sich sein Erstling in puncto Tempo und Rasanz noch weit in den Schatten stellen lässt.

Zuvor gilt es für Alfred Vohrer jedoch, das Hildegard-Knef-Revival "Jeder stirbt für sich allein", das ab dem 15.09.1975 in Berlin entsteht, zumindest einigermaßen im Zeitrahmen zu Ende zu bringen. Dies gestaltet sich schwieriger, als es sich sowohl Produzent Karl Spiehs als auch Regisseur Alfred Vohrer zum Start der Dreharbeiten dachten. Die Knef wählte den Fallada-Stoff nicht ohne Hintergedanken für ihr Leinwand-Comeback. Die Rolle der Berliner Arbeiter-Frau Anna Quangel erschien ihr im Vorwege als geeignet, die Spuren ihrer eigenen Leidensgeschichte - Hildegard Knef litt seit dem Beginn der 1970er Jahre unter einem hartnäckigen Krebsleiden - auf die Leinwand zu transportieren. Nach Beendigung der strapaziösen Dreharbeiten muss Alfred Vohrer den nahezu ausschließlich an Originalschauplätzen und nicht im Atelier entstandenen Film einer 100%-Synchronisation unterziehen. Die Knef, die sich natürlich selbst synchronisieren will, fällt jedoch ärztlich verordnet über mehrere Wochen aus und kann die Synchronarbeiten nicht wie geplant im November 1975 aufnehmen. Bei Alfred Vohrer jedoch drängt der Anschlusstermin seines zweiten "Derricks", der ab dem 01.12.1975 entstehen soll. Nachdem sein "Derrick"-Erstling "Kamillas junger Freund" gut ankam, hatte er im Mai 1975 die Option auf die zwei weiteren Episoden unterschrieben. Aufgrund des jedoch nach wie vor nicht fertiggestellten Fallada-Films schwant Vohrer Böses. So diktiert der Regisseur der BZ in ihrer Ausgabe vom 13.11.1975 in den Griffel: "Nun komme ich ins Schleudern. [...] Vielleicht muss ich also den 'Derrick' an einen anderen Regisseur abgeben." Vohrers Befürchtungen werden sich bewahrheiten. Die Knef fällt bis Ende November 1975 aus, die Synchronisation ihrer Szenen, die Alfred Vohrer ganz an das Ende gestellt hat, reicht dennoch bis in den Dezember 1975. Das vorweihnachtliche Zeitfenster der "Derrick"-Episode wird er nicht wahrnehmen können. Es wird somit 1976, ehe Alfred Vohrer an die "Derrick"-Episode "Tote Vögel singen nicht" gehen kann, die ihm Herbert Reinecker maßgeschneidert auf den Leib schreibt und für die der Regisseur erneut einen Mix aus altvertrauten und hochgeschätzten Darstellen (Harald Leipnitz, Doris Kunstmann, Tilly Lauenstein, Hilde Brand) sowie aus neuen und bald zum festen Vohrer-Ensemble zählenden Gesichtern (Hans Caninenberg, Hans Korte) auflaufen lässt. Die Besetzung der einzelnen Episoden nimmt zwar normalerweise Produzent Helmut Ringelmann - bisweilen in Absprache mit dem Regisseur - selbst vor. Bei den beiden ersten Episoden Vohrers jedoch ist noch auffälliger als bei späteren, dass es dem Regisseur gelingt, diesbezüglich ein gehöriges Wörtchen mitzureden. Und auch ansonsten versucht Vohrer, seinen Platz in der Reihe zu finden. Reineckers Drehbuch gibt ihm hierzu im Falle "Tote Vögel singen nicht" weitreichende Möglichkeiten der exploitativen Entfaltung. Vohrer filmt, als wolle er das Kino ins Fernsehen holen. Plakativ und ohne jede Rücksicht auf geschmäcklerische Verluste findet sich die erste Leiche auf der Müllkippe, der nächste Tote sitzt mit weit aufgerissenen Augen im Lehnstuhl. Der Schauspieler Thomas Astan muss sich in seiner Rolle als Handlanger des bis ins Chargieren bösen Hans Korte zunächst gefallen lassen, dass er den Spitznamen "Bubi" ins Drehbuch geschrieben bekommt, erhält dann von Horst "Derrick" Tappert eine nicht in dieser Form in Reineckers Buch enthaltene Tracht Prügel für eine unbedachte Bemerkung ("Das war für den 'Scheiß Bullen', Bubi!"), um schlussendlich von Dauerbösewicht Ulli Kinalzik im Moorbad ersäuft zu werden. Eigentlich wäre "Bubis" Tod angenehmer verlaufen, hätte er doch nach Reineckers Idee in der Sauna ableben sollen. Vohrer indes disponiert um. Inmitten dieses ganzen Geschehens mutet der darauffolgende Tod von Hans Caninenberg beinahe herkömmlich an, verendet er doch am Steuer seines Wagens durch Ulli Kinalziks gebrauchsüblichen Einsatz einer Schusswaffe. Alfred Vohrer immerhin - nun ganz zur allerhöchsten Form aufgelaufen - lässt das Kunstblut bis an die Seitenscheibe des Wagens spritzen und darf auch darauffolgend noch einmal alle Möglichkeiten ausschöpfen, die ihm Reineckers Drehbuch vorlegt: Im wilden Maschinengewehrfeuer erhält nun endlich auch Ulli Kinalzik seine gerechte Strafe für die begangenen Taten und wird durch die Hand seines Bosses - Hans Korte - dahin gemeuchelt. Vohrer filmt das Maschinengewehrmassaker in Zeitlupe, verzichtet jedoch pietätvollerweise auf pyrotechnische Abenteuer, die auch noch den Körper des Dahinscheidenden zerfetzend zeigen. Das ist vermutlich selbst dem an deftigen Bildern gelegenen Regisseur zu viel - er bescheidet sich.
Zur Erinnerung: Die vorstehenden Zeilen beschreiben eine Episode aus der Reihe "Derrick". Erstellt für das gemeinfinanzierte öffentlich-rechtliche Abendprogramm des ehrwürdigen ZDF. Es handelt sich um genau jene Serie, die den allermeisten jüngeren Zuschauern vor allem durch die Getragenheit des ältlichen Oberinspektors in Erinnerung sein dürfte. Alfred Vohrer jedoch inszeniert den "Derrick" zu Beginn seiner TV-Karriere so, wie er es für richtig hält und schafft damit eine Evolution, die ihren Ursprung in den späten Edgar-Wallace-Filmen hat, in denen Horst Tappert bereits den toughen und schneidigen Inspektor mimt. Hinweg über die beiden Ausbaustufen in "Sieben Tage Frist" und erstrecht in "Perrak" - in beiden Kinofilmen stellt Horst Tappert unter der Regie Vohrers den Inspektor dar - kommt die nahezu identische Figur als Stephan Derrick unter seiner Regie nun auch im Fernsehen an. Bei Vohrer langt Derrick gerne einmal hin, hat einen lockeren Spruch auf den Lippen, wird
gar boxend gezeigt. Nicht immer findet sich Entsprechendes bereits in der Buchvorlage. Alfred Vohrer arbeitet seine Drehbücher im Vorfeld der Dreharbeiten stets bis ins kleinste Detail in Storyboards um. Gezwungenermaßen mit der linken Hand vermerkt der eigentliche Rechtshänder Kameraperspektiven und -fahrten, Dialogänderungen und auch Umgebungsänderungen. Er notiert sich den Musikeinsatz und dessen Ende, unterstreicht Wörter, die durch die Schauspieler in besonderer Weise zu betonen sind. Selten legt Vohrer während der Dreharbeiten seine "Drehbuch-Bibel" zur Seite, Änderungen daran nimmt er nur vor, wenn es gar nicht anders geht oder ein Schauspieler, den er schätzt, Änderungsvorschläge macht. Improvisieren ist Alfred Vohrer ein Greul. Es wird gemacht, wie er es sich zuvor überlegt hat. Präzise weist er seine Schauspieler an, gibt dem Kameramann entsprechende Direktiven. Eine Probe, vielleicht zwei. Dann wird gedreht. Nach zwei Klappen, vielleicht drei, sitzt die Szene. Auf einige Schauspieler wirkt Vohrer bei der Arbeit dabei bisweilen leicht maschinell, z.T. auch distanziert. Jedoch ist er die unangefochtene Respektsperson am Set. Wenn er spricht, hören die anderen besser genau hin. Der Regisseur erzählt die Sachen ungern zweimal. Stabmitglieder oder Darsteller, die mit Freddy auch neben der Arbeit befreundet sind, erleben am Drehort nicht selten einen vollkommen ausgewechselten Menschen. Er spricht kaum ein privates Wort; generell spricht er während des Drehens sowieso nur das Nötigste. Doch handelt es sich dabei nicht um (gewollte oder ungewollte) Unfreundlichkeit oder Missachtung; es ist vielmehr Bestandteil der ihm eigenen Ökonomie. "Er hat bei unserer ersten Begegnung kaum mit mir gesprochen, auch später nicht, aber das war seine Art. Als wir den ersten Film miteinander drehten, hatte ich am ersten Drehtag ein ganz komisches Gefühl, denn Alfred Vohrer sprach den ganzen Tag nicht mit mir. Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob er denn mit mir nicht zufrieden sei, weil er nicht mit mir spricht. Da plötzlich lachte er, legte den Arm um meine Schulter und lobte mich. Er würde meine Arbeit sehr schätzen, denn ihm wäre ein Regieassistent am liebsten, der ihn den ganzen Tag in Ruhe lässt.", erinnert sich Peter Weissflog.
Doch zurück zu "Tote Vögel singen nicht". Mit seinem Parforceritt durch fünf Todesfälle, einigen anrüchigen Barszenen (die denen seines Edgar-Wallace-Streifen "Der Gorilla von Soho" nicht von ungefähr ähneln) sowie durch seine nahezu exploitative Charakterzeichnung der Figuren tut sich Alfred Vohrer keinen Gefallen. Heute mag die Episode zu den am meistgeschätzten und auch ungewöhnlichsten der gesamten Reihe gehören. Seinerzeit doch kippt der für den "Derrick" verantwortliche ZDF-Redakteur Claus Legal fast aus den Latschen. Nach der Ausstrahlung erhält der Sender erwartungsgemäß unzählige Anrufe besorgter Bundesbürger, die vorgeben, um das Wohl der deutschen TV-Landschaft zu bangen. Und in der Tat wirken einige Szenen - die Episode wurde vor ihrer Ausstrahlung nach vorliegenden Erkenntnissen weder gekürzt noch sonst wie geschnitten - zu anstößig, kommt die Darstellung der Gewalt für damalige Sehgewohnheiten zu ausgeprägt daher.
Zudem mokiert sich auch die Gewerkschaft der Polizei. Ein omnipräsenter Vertreter ihrer Zunft haut auf heimischen Bildschirmen keinem noch so bösen Bösewicht einfach so in die Schnauze.
Doch die mahnenden Worte der deutschen Öffentlichkeit (und damit einhergehend sicher auch die des Senders an den Produzenten) kommen für den nächsten Eklat zu spät, denn Alfred Vohrer dreht im direkten Anschluss an und damit vor der Ausstrahlung von "Tote Vögel singen nicht" die Episode "Schock". Dieses Mal jedoch wird es weniger Vohrers Hang zum Plakativen sein, der den Unmut der Zuschauer auf sich zieht und das ZDF in Folge dazu bringen wird, "Schock" nach der Erstsendung nie zu wiederholen. In dieser Episode muss der Regisseur den Mord an einem Kind inszenieren. Dieser steht so im Drehbuch und ist essentieller Bestandteil der Geschichte, die ansonsten eher dramatisch denn kriminalistisch geprägt ist. Alfred Vohrer weiß nur zu genau, dass er bei einem solchen Sujet nicht derart auf die Pauke hauen kann, wie er es bei der direkten Vorgängerepisode tat. Es zeigt die künstlerische Güte Vohrers, dass er infolge nur weniger Monate zwei vollkommen unterschiedliche Episoden hervorbringen kann. Gleichwohl sind die Zuschauer, als die Episode kurz nach dem Maifeiertag 1976 ausgestrahlt wird, entsetzt. Das Kind, das zum Schweigen gebracht werden soll und obendrein auch noch Opfer einer Verwechslung ist, zeigt Vohrer während der Tat in Großaufnahme. Erst kurz vor der vollendeten Tat lässt er Kameramann Kästel hochschwenken, um das Allerschlimmste auszublenden. Der Skandal ist perfekt! Solche Episoden sind die Deutschen von ihrem heimeligen "Kommissar" Keller nicht gewohnt. Zudem steckt auch noch die Vorgängerepisode, ausgestrahlt nur vier Wochen zuvor, in den Knochen. Beim ZDF hagelt es Protestbriefe. Redakteur Claus Legal schließlich zieht die Notbremse.

So geht es nicht weiter! Zunächst einmal gibt es den Erlass, dass in einer Episode nicht mehr als drei Menschen zu Tode kommen dürfen. Gewalt an Minderjährigen ist zudem auf das maximal nötige Maß zu reduzieren, besser noch ganz zu unterlassen. Das ZDF hat nicht vor, die Geduld seiner Zuschauer weiter zu strapazieren. Und so fügt sich auch Alfred Vohrer, dessen Maxime stets war und noch immer ist, dass er den ihm gestellten Auftrag erfüllt. Seine Aufgabe ist es bei den drei ersten Episoden, der Serie einen neuen "Drive" zu vermitteln. Dies tut er. Doch die folgenden Episoden - in Summe sollen es 28 werden! - müssen allgemeinverträglicher werden, damit sie beim seinerzeitigen Publikum ankommen. Alfred Vohrer tut wie ihm geheißen und passt sich den Gegebenheiten an. Keine der zukünftigen 25 Episoden der Reihe "Derrick" und auch keiner seiner Beiträge zu "Der Alte" werden je wieder den Zorn der Zuschauer auf sich ziehen.
Aus heutiger Sicht gehören die ersten drei Vohrer-"Derricks" sicher zu den interessantesten Episoden der gesamten Reihe. Einerseits planen Herbert Reinecker und Produzent Helmut Ringelmann zum Zeitpunkt der Entstehung der drei Episoden noch den bis ca. 1977 anhaltenden Aufstand gegen die allgegenwärtige Whodunit-Dramaturgie, die ihre (nicht selten einzigen) Spannungsmomente aus der Frage ableitet, wer denn nun am Ende als Täter entlarvt wird. Andererseits wird "Derrick" erstmals zu Beginn der 1980er Jahre und recht deutlich dann ab dem Beginn der 1990er Jahre mit wortlastigen Psychologie-Weisheiten des Autors übertüncht. Eine solche Eigenschaft mag man der Episode "Schock" in deutlich milderer Form noch anhängen. "Kamillas junger Freund" und erstrecht "Tote Vögel singen nicht" jedoch sind Vertreter des bisweilen plakativen jedoch durchgängig abwechslungsreichen und tempobetonten Unterhaltungsfernsehens, wie es in folgenden Jahren immer mehr abhandenkommt.
Bis zu Alfred Vohrers Tod in der Nacht auf den 03.02.1986 - bezeichnenderweise kurz vor der Entstehung der Episode "Terzett in Gold" aus der Reihe "Der Alte" - wird Helmut Ringelmann seinen neuen Regisseur, den er anfangs gar nicht wollte, so oft beschäftigen, wie es nur geht. Und auch Alfred Vohrer arrangiert sich mit dem Fernsehen, das er anlässlich einer TV-Reportage zu den Dreharbeiten seines Kinofilms "Neues vom Hexer" im Jahre 1965 noch wie einen Fremdkörper behandelt hatte und über das er auch 1969, im Startjahr des "Kommissars", noch schallend gelacht hätte, sofern man ihm damals gesagt hätte, er würde alsbald Bestandteil dieses Ringelmann'schen Fernsehkosmos.

Diese Seite wurde zuletzt bearbeitet am: 15.02.2015

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